Wie Vielfalt zu starken Entscheidungen verhilft

 In Blogbeitrag

Lohnt sich Partizipation?

Ob Teams selbstorganisiert und autonom arbeiten können, zeigt sich vor allem in der Art und Weise, wie sie Entscheidungen treffen. Immer mehr Organisationen haben den Anspruch, Entscheidung nicht allein in die Hände einer Führungsperson zu legen. Wer von einer Entscheidung betroffen ist, soll mitentscheiden können. Dahinter steckt die Annahme, dass so bessere und tragfähigere, d.h. starke Entscheidungen getroffen werden und die Mitarbeiter:innen durch die erlebte Selbstwirksamkeit motivierter sind. Aber wie organisiert man diese gemeinsame Entscheidungsfindung? Und steht die Einbeziehung vieler nicht im Widerspruch zur Effizienz, die Organisationen anstreben? Kostet uns der Aufwand am Ende nicht mehr, als er uns einbringt?

Mehrheitsentscheide sind oft frustrierend

Unsere Einstellung zum „gemeinsam entscheiden“ ist allem voran von unseren Erfahrungen im politischen System „Demokratie“ geprägt. Unabhängig davon, ob wir in einer Direkten Demokratie wie der schweizerischen oder eine Repräsentativen Demokratie wie der deutschen oder österreichischen leben. Demokratie verbinden wir mit Partizipation, Herrschaft des Volkes, Bürgerentscheide, Freiheitsrechten, usw. Leider machen wir allzu oft die Erfahrung, dass unsere Kreuze auf den Stimmzetteln, der gemeinsame Wille des „Demos“, nicht zwangsläufig zu den besten Ergebnissen führen. Dass die Wahl von der Mehrheit entschieden wird, zu Ungunsten einer Minderheit. Und das die daraus resultierenden politischen Entscheide nicht selten faule Kompromisse sind. Auch in Schule, Ehrenamt und auf der Arbeit wurden und werden wir immer wieder dazu animiert zu „partizipieren“ und unsere Stimme zu erheben. Was aber bringt es seine Stimme zu erheben, wenn sie nicht ausreichend berücksichtigt oder in irgendeiner Form integriert wird? Das ist frustrierend. Und es beeinflusst unsere Haltung zum Thema Mitentscheiden.

Wie wir Entscheidungsprozesse partizipativ und inklusiv gestalten können

Es gibt eine Vielzahl an Ideen und Prinzipien, wie man auch den demokratischen Prozess der Entscheidungsfindung tatsächlich inklusiver und partizipativer gestaltet und dabei das Ergebnis besser anstatt schlechter wird. Eine Auswahl davon möchte ich im folgenden Text vorstellen. Anschließend diskutiere ich ihre Relevanz für Organisationen.

Die 4 Stufen der demokratischen Entscheidungen nach Betzavta

Bereits vor einigen Jahren, als politische Jugendbildnerin, bin ich über das Konzept Betzavta gestoßen. Betzavta heißt auf hebräisch so viel wie „Miteinander“ und wurde von der Israelin Uki Maroshek-Klarmann am Adam-Institut in Israel zur Demokratie- und Friedensförderung entwickelt. Ziel von Betzavta ist es, mithilfe verschiedener Methoden zur Konfliktlösung die Anerkennung des gleichen Rechts aller Menschen auf Freiheit zu verwirklichen.

Fragt man nach, wie man in einer Gruppe zu einer guten Entscheidung kommt, hört man oft: In dem wir per Handzeichen entscheiden. Nach der Mehrheit also. Der Mehrheitsentscheid kommt als die pragmatischste und unkomplizierteste Stufe der Entscheidungsfindung daher, aber laut Betzavta ist sie noch lange nicht die demokratischste. Vor dem Mehrheitsentscheid gibt es mindestens 3 bessere Wege eine gute Entscheidung zu treffen, die die unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse ALLER berücksichtigt.

Ein Entscheidungs- und Denkprozess

Die 4 Stufen der demokratischen Entscheidungsfindung, die auch als Denkprozess verstanden werden können, stellen sich wie folgt dar:

  1. Zunächst sollten wir uns einmal fragen: Haben wir überhaupt ein Problem, das unvereinbare Positionen beinhaltet? Die Frage ist also, ob es sich um einen echten oder einen imaginären Widerspruch handelt, der – auf den ersten Blick – allein durch die Aufgabe der Rechte einer oder mehrerer Parteien aufzulösen ist.
  2. Stellen wir fest, dass es sich um einen echten Widerspruch handelt, der zu einem Konflikt führen kann, sollten wir prüfen, ob wir die Situation so verändern können, dass der Widerspruch aufgehoben wird. Wir suchen also eine Lösung. Z.B. indem wir uns fragen, ob man diese gegensätzlichen Positionen auch als Alternativen ansehen kann. Alternativen, die auch ich wählen könnte. Und lassen sich diese Alternativen ggf. miteinander zu einer gemeinsamen Lösung verbinden? Meistens lohnt es sich diese Überlegungen anzustellen, nur selten sind die Alternativen unvereinbare Widersprüche.
  3. Falls sich dennoch keine einvernehmliche Lösung finden lässt, fragen wir nach, ob es möglich ist, die Interessen der potentiellen Konfliktparteien gleichermassen einzuschränken, sodass deren Rechte gleichermaßen verwirklicht werden können. Wir streben also einen echten Kompromiss an.
  4. Erst dann, wenn sich keine Einigung erzielen lässt, sollte man einen Mehrheitsentscheid heranziehen.

Inwiefern ist dieser Denk- und Entscheidungsprozess auch für Menschen in Organisationen relevant? Geht es hier überhaupt um die Einschränkung der Rechte einzelner?

Wenn Entscheidungen dazu führen, dass Menschen ihren Job bzw. die damit verbundenen Aufgaben nicht mehr machen können oder ihre Tätigkeiten nach der Entscheidung mit einem wesentlichen Mehraufwand einhergehen, Privilegien oder Rechte wegfallen, usw. macht dieser Entscheidungsprozess auch in Organisationen Sinn.

 

Esel, die an einem Strang ziehen

Handlungsalternativen verbinden

Spannungen und Konflikte

Grundsätzlich bietet sich diese Vorgehensweise für Spannungen und Konflikte an, die auch in Organisationen nicht selten sind, z.B. zwischen Abteilungen, Kolleg:innen oder Kooperationspartner:innen. In der Erkundung der Positionen bedient sich die Urheberin von Betzavta der Tetralemma-Methode, die ein bewährtes Mittel in der Konfliktmediation ist. Ein Reframing der verschiedenen Positionen in Handlungsalternativen hat zur Folge, dass sie die Gegensätzlichkeit und die scheinbare Widersprüchlichkeit aufhebt. Ich muss mich nicht länger für oder gegen etwas positionieren, ich kann zwischen Alternativen wählen und auch den Versuch unternehmen, diese sinnvoll miteinander zu verbinden.

Tretralemma

Tretralemma

Ein Beispiel: In einem Dienstleistungsunternehmen wird die Position vertreten: Wir müssen den Preis für unsere Leistungen erhöhen. Jemand anderes aus dem Team ist der Auffassung, man könne keinen einheitlich (hohen) Preise verlangen, sondern müsse die Preise an das Klientel und deren Situation anpassen. Sind diese beiden Positionen unvereinbar? Handelt es sich nicht sogar um Handlungsalternativen? Und: Gibt es eine gute Möglichkeit, diese beiden Positionen zu verbinden? Ja, z.B. indem man den Standardpreis erhöht, diesen auf der Rechnung ausweist und für ein gewisses Klientel (z.B. gemeinnützige Einrichtungen) einen Rabatt ausweist. Das Unternehmen kann also gleichzeitig einen höheren Preis ausweisen UND die Preise durch einen Rabatt an das Klientel anpassen. Oder man hält dies für Augenwischerei und begibt sich auf die nächste Stufe: Die Suche nach einem Kompromiss.

Konsent nach Soziokratie 3.0

In Soziokratie 3.0 (S3) wird ein konkreter Weg für die ersten beiden Stufen der demokratischen Entscheidungsfindung gezeichnet: Der „Konsent“. Es ist eine Anleitung, wie man feststellt, ob es unvereinbare Widersprüche gibt und alle Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt sind. Anders als beim Konsens geht es beim Konsent nach S3 nicht darum, eine Entscheidung zu treffen, mit der alle von Anfang an einverstanden sind. Es geht vielmehr darum schwerwiegende Einwände zu entdecken und mögliche Bedenken in den Entscheidungsprozess zu integrieren.

Einwände offenbaren dabei Information über unbeabsichtigte Folgen, oder über Verbesserungsmöglichkeiten eines Vorschlags. Zunächst wird der Vorschlag vorgestellt, über den die Teilnehmenden entscheiden wollen. Anschliessend sagt reihum jede und jeder wie man zu dem Entscheidungsvorschlag steht. Äussert im Konsententscheid jemand in der Meinungsrunde einen Einwand, so wird dieser integriert. Das heisst, der Vorschlag wird gemeinsam anhand der genannten Einwände solange angepasst, bis es keine schwerwiegenden Einwände mehr gibt.

Schwerwiegende Einwände

«Schwerwiegend» ist ein Einwand laut S3 dann, wenn:

  • Das angestrebte Ergebnis durch den Vorschlag nicht (vollständig) erreicht werden kann > Effektivität
  • Es verschwenderisch wäre, dem Vorschlag (oder der existierenden Vereinbarung) zu folgen > Effizienz
  • An anderer Stelle negative Konsequenzen entstehen würden > Seiteneffekte

Diese Definition ist deshalb wichtig, weil persönliche Befindlichkeiten hinsichtlich einer Entscheidung (z.B. „ich hätte es anders gemacht“) kein Grund sein sollen, um eine Entscheidung zu blockieren. Die Einschränkung von persönlichen Rechten oder das Auferlegen neuer Pflichten dagegen schon. Das wäre dann ein solcher «Seiteneffekt».

Bedenken

Neben Einwänden sind Bedenken wichtig. Bedenken können Wege aufzeigen, wie eine Vereinbarung weiterentwickelt werden kann (z.B. über die Anpassung von Evaluationskriterien und -zeitpunkt einer Vereinbarung). Wird in einer Meinungsrunde ein Bedenken geäussert, so ist dieses erst einmal platziert. Es muss allerdings nicht in Form einer Änderung des Vorschlags integriert werden. Bedenken werden gehört, protokolliert und im Auge behalten.

Konsententscheid in der Gruppe

Konsententscheid in der Gruppe

Konsent erklärt anhand des sexual consent

Klingt abstrakt? Ist es auch. Daher möchte ich den Konsent gerne am Konzept des sog. sexual consent veranschaulichen, welches aktuell in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung und das Sexualstrafrecht viel diskutiert wird. Konsens herrscht dann, wenn alle an einer sexuellen Handlung Beteiligten ihre eindeutige Zustimmung gegeben haben. Die Frage „Hast du Lust mich zu küssen?“ lädt ein zuzustimmen oder abzulehnen. Wird die Frage mit „Ja“ beantwortet, haben wir einen Konsens.

Ein Konsent dahingegen herrscht erst vor, wenn nichts mehr dagegen spricht. Wenn man also einer betrunkenen Person die obige Frage stellt und sie diese mit «ja» beantwortet, ist zwar ein Konsens hergestellt, aber nicht ein Konsent. Denn es ist fragwürdig, ob die betrunkene Person auch im nüchternen Zustand zugestimmt hätte. Dieser Umstand spricht also dagegen miteinander zu knutschen, denn mindestens eine Person könnte diese Handlung am nächsten Tag bereuen.

 

Robuste Entscheidungsfindung in Organisationen

Entscheidungen, gegen die am Ende nichts mehr spricht, sind starke Entscheidungen. Und starke Entscheidungen haben zur Folge, dass daraus die erwünschten Handlungen entspringen. Ob sie auch immer das gewünschte Ergebnis liefern, steht auf einem anderen Blatt.

Bezugspunkte für und von Entscheidungen

Die 4 Stufen der demokratischen Entscheidungsfindung sind ein guter Denkprozess für Unstimmigkeiten, Widersprüche oder gar Konflikte. Auch in Organisationen, in denen Mitarbeiter:innen von Führungspersonen zu Entscheidungen „lediglich“ konsultiert werden, lässt sich dieser Prozess mit gezielter Moderation und den entsprechenden Fragetechniken anwenden. Zudem sind sie eine Möglichkeit, die vielerorts gewünschte Diversity zu praktizieren. Da das Konzept nicht für Organisationen entwickelt wurde, gibt es allerdings keinen direkten Bezug zum Organisationszweck. Die Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen sind in Organisationen zweitrangig, vorrangig ist die gemeinsame Unternehmung. Das sollte bei der Anwendung des Konzepts in Organisationen berücksichtigt werden.

In selbstorganisierten oder besser „selbst-regierten“ (self-governed) Teams, wie S3 sie nennt, macht es durchaus Sinn den Konsent als Muster der Zusammenarbeit einzuführen. Im Konsent nach S3 wird die gemeinsame Unternehmung konsequent mitgedacht, wohingegen die Interessen und Bedürfnisse des Individuums nicht vorrangig sind. Deswegen mutet der Konsent in der Praxis hier und da auch technokratisch an. Es lohnt sich also bei Einwänden und vor allem auch bei Bedenken hinter die Sachebene zu schauen und die Beziehungsebene in den Blick zu nehmen. Sprich: Insbesondere die zweite Stufe der demokratischen Entscheidungsfindung heranzuziehen.

Wann sind Mehrheitsentscheide vielleicht doch sinnvoll?

In manchen Teams kann eine Abkürzung über den Mehrheitsentscheid auch ein guter Weg sein. Nämlich dann, wenn diese bereits vertrauensvoll miteinander arbeiten und es in diesen üblich und erwünscht ist, Bedenken und Einwände zu äusseren sowie unausgesprochene Annahmen zu thematisieren und zu integrieren. Zögerliche Rückmeldungen, Gegenstimmen, eine abrupte Veränderung der „Temperatur“ im Raum sind eine Spur dafür, dass an dieser Stelle der Entscheidungsprozess nochmals geöffnet werden und verschiedene Stimmen gehört und integriert werden sollten. Um sicher zu gehen, dass man beim Mehrheitsentscheid niemanden übergangen hat, kann man anschiessend in die Runde fragen: Spricht wirklich nichts (mehr) gegen diesen Entscheid? Ggf. schliesst sich hier der Konsent bzw. die demokratische Entscheidungsfindung an.

Quellen:

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