Selbstorganisation und Führung
In Teil 1 der Serie zu Selbstorganisation ging es um die Frage, was wir unter dem Begriff der Selbstorganisation verstehen. Im zweiten Teil schauen wir auf das Thema Führung: Wieso beschäftigen wir uns als Führungskräfte mit Selbstorganisation? Und wenn sich Teams selbst organisieren, welche Führung braucht es dann überhaupt noch?
Wieso beschäftigt man sich in Organisationen mit Selbstorganisation?
In der Management- und Betriebswirtschaftslehre wurde über lange Zeit mit einfachen Führungsmodellen gearbeitet. Sie gehen davon aus, dass sich Teams und Organisationen über Anweisungen, Regeln oder Willensäusserungen direkt und gezielt steuern lassen. Führung heisst in dieser Perspektive: Man muss nur an der richtigen Schraube drehen, vergleichbar mit einem Uhrwerk, um Erfolg zu schaffen. Es werden klare Zusammenhänge zwischen Handlung (Ursache) und Wirkung (Erfolg) gesehen.
Die Erfahrung zeigt, dass dies nur in sehr begrenztem Masse möglich ist. Die Ursache-Wirkung-Hoffnung ist eine Illusion. Soziale Systeme ganz allgemein verfügen über eine hohe Autonomie und Eigendynamik. Wer schon einmal auf eine schnelle Antwort einer Behörde angewiesen war, weiss was hier gemeint ist.
Daher ist man auch in der Managementlehre zunehmend bereit, diese klassischen Führungsmodelle zugunsten einer “realistischeren” und damit potenziell erfolgreicheren Sichtweise aufzugeben. Man akzeptiert, dass Personen, Gruppen, Teams oder Organisationen selber entscheiden, was sie für nützlich und sinnvoll halten. Das beeinflusst massgeblich welche Muster (z. B. Kommunikation, Handlung) und Strukturen (z. B. Hierarchie, Gruppierung) akzeptiert und etabliert werden.
Es lohnt sich also Selbstorganisation, Autonomie und Eigendynamik in seine Sichtweise einzubeziehen.
Doch wenn soziale Systeme durch Führung nicht mehr einfach gesteuert werden können, wenn Führung keine direkte, vorhersagbare Wirkung erzielen kann, wirft dies Fragen auf:
- Durch was und wie wird Führung nun legitimiert?
- Wie wird entschieden, was im Sinne der Organisation ist und was nicht?
- Wie geht man mit Risiken, Fehlern, Erfolgen und Misserfolgen um?
- Wie wird mit dysfunktionalen Prozessen umgegangen?
- Und vor allem: Was ist die (neue) Rolle der Führung? Und was kann man noch steuern?
Um diese Fragen beantworten zu können, muss Führung zunächst die begrenzte Steuerbarkeit von sozialen Systemen akzeptieren. Und sich anschliessend mit dem Phänomen der Selbstorganisation auseinandersetzen.
Was kann Selbstorganisation leisten? Was kann man erwarten?
Was kann man ohne zentrale Befehlsgewalt erwarten?
Beispiele für Selbstorganisation gibt es viele und in ganz unterschiedlichen Bereichen. Man findet sie:
- Auf bio-chemischer Ebene: Gleich-Taktung von Enzymen zur Effizienz-Erhöhung;
- In biologischen Uhren;
- Bei sozialen Insekten: Bau von Termiten-Hügeln, Lösung logistischer Probleme bei der Futtersuche von Ameisen;
- Bei Wirbeltieren: Vogel- und Fischschwärme, Zugvogelformationen;
- Beim Menschen: kollektive Entscheidungen in Marktsituationen, Wahl von Technologien, Verkehrsfluss-Dynamik;
- Bei Computer-Programmen: z.B. Optimierung der Lastverteilung zur Optimierung von CPU-Zeit.
Was all diese Beispiele gemein haben, ist, dass bei ihnen Ordnung spontan entsteht:
- Räumliche Ordnung wie bei den Termitenhügeln
- funktionale Ordnung wie bei kollektiven Entscheidungen
- zeitliche Ordnung wie bei biologischen Uhren
All das geschieht, ohne dass eine zentrale Befehlsgewalt dafür verantwortlich wäre. Die Ordnung entsteht aus den Wechselwirkungen zwischen den Teilen des Systems. In komplexen Fragestellungen kann ein Individuum häufig die zur Steuerung notwendigen Informationen gar nicht haben:
- Eine Ameisenkönigin in ihrem Nest hat keine Kenntnis von der Futtersituation ausserhalb des Nests;
- Der einzelne Vogel oder Fisch innerhalb eines Schwarms kann unmöglich die gesamten im Umfeld vorhandenen Fressfeinde kennen und eine Ausweichlösung koordinieren;
- Die Marktkräfte funktionieren und helfen dabei, die Ressourcen in einer Gesellschaft zu verteilen, ohne dass diese Aufgabe von einem Individuum alleine übernommen werden könnte.
Selbstorganisation ist hilfreich, wenn es schwierig ist, den Überblick zu behalten
In all den genannten Beispielen aus der Biologie geht es darum, eine Antwort auf dynamische, komplexe und unvorhersehbare Situationen zu finden. Antworten, die die strukturelle und funktionale Integrität der Gemeinschaft bewahren. Selbstorganisation kann dazu beitragen, sehr komplexe Probleme zu lösen. Dabei können sich Vielteilsysteme intelligent verhalten ohne, dass die Elemente ein Bewusstsein dafür entwickeln oder die Prozesse reflektieren.
Diese Leistungen sind auch im Kontext von Organisationen wichtig und wertvoll. Solche unvorhersehbaren und komplexen Situationen stellen auch Unternehmen und andere Organisationen vor Herausforderungen. In Situationen, in denen es für ein Individuum schwer ist, die Situation zu überblicken, können Selbstorganisationskräfte besonders nützlich sein. Sie ermöglichen mit komplexen und unüberschaubaren Situationen umzugehen und dafür geeignete Lösungen zu finden. Dabei spielen iteratives Vorgehen und hohe Fehlertoleranz wichtige Rollen.
Können wir Turbulenzen strukturieren?
Die meisten Unternehmen sind permanent mit den verschiedensten Veränderungen und Störungen konfrontiert. Das heisst, sie sind laufend gleichzeitig mit Fragen konfrontiert wie:
- Wie können wir schnell, flexibel und adäquat auf die Marktveränderungen und die sich verändernden Kundenwünsche reagieren?
- Wie können wir unsere Innovationskraft und -geschwindigkeit steigern und neue Impulse am Markt setzen?
- Wie können wir Risiken frühzeitig erkennen und adäquat angehen?
- Wie gehen wir mit Risiken um?
Phänomene wie die digitale Transformation, die Globalisierung oder wie aktuell Pandemien rufen immer neue Turbulenzen hervor (oft als “disruptive Veränderungen” bezeichnet). Sie lassen sich weder durch ein gezieltes Change-Projekt noch durch vorgefertigte Lösungen beheben. Unterschiedliche Fragen in unterschiedlichem Kontext erfordern unterschiedliche Antworten. Sind einmal Antworten gefunden, sind sie selten von Dauer und müssen laufend angepasst werden.
Viele Unternehmen versuchen dieser Dynamik der Umgebung zu begegnen, in dem sie mehr strukturelle Komplexität aufbauen. Sie führen immer kompliziertere Modelle ein, die mehr Variablen einbeziehen. So werden mehrfache Hierarchien aufgebaut (Matrixorganisation, Dotted Line Reporting), es werden zusätzliche Projekte gestartet und Task Forces eingerichtet. Führung ist vor allem damit beschäftigt, Vorgaben einzuhalten und für Konformität zu sorgen. So entstehen Dinge wie “Compliant Innovation Programme”. Führungsentwicklung zielt vor allem auf individuelle Fähigkeiten wie persönliches Durchsetzungsvermögen, Empowerment und “Excellence”.
Doch dieser Versuch, das System durch zusätzliche Vorgaben, Regeln, Prozesse, Hierarchien und Zielvereinbarungen robuster zu machen, schränkt die Handlungs- und Reaktionsfähigkeit des Unternehmens ein. Entscheidungen werden nicht getroffen, dauern zu lange oder werden zwar “entschieden” aber nicht umgesetzt. In der Folge nehmen Leistungsfähigkeit und Innovationskraft ab. Zudem wird das Vorgehen von den Beteiligten oft nicht als sinnvoll angesehen.
Selbstorganisierte Teams sind die Antwort auf Turbulenzen
Was können Organisationen also tun? Wenn das Grosse und Stabile die notwendigen Veränderungen nicht mitgehen kann, braucht es flexiblere, meist kleinere und veränderbare Einheiten: Man greift zurück auf Gruppen, die Raum erhalten zu experimentieren und angemessene Antworten auf die jeweilige Situation zu finden. Sie können dabei nur begrenzt auf bekannte Konzepte zurückgreifen. Damit Neues entstehen kann, braucht es Freiraum. Das heisst, viele der etablierten Strukturen (z. B. Hierarchien) und Vereinbarungen verlieren ihre Gültigkeit. Und eine neue Ordnung entsteht.
“Man kann Innovation nur strukturell ermöglichen, indem man Räume zum Ausprobieren und freien Denken schafft. Und man braucht einen klugen Umgang mit informalen Entwicklungen, sodass nicht jede Abweichung vom Regelwerk sofort geahndet wird. Prozessinnovation entsteht oft durch funktionale Abweichung, wenn Mitarbeiter von sich aus ihre Arbeit besser organisieren.” [1]
Selbstorganisierte Teams, die Freiraum haben zu experimentieren, sind die Antwort auf Turbulenzen. Organisationen in dynamischen Märkten setzen daher auf kleine organisatorische Einheiten. Sie weisen ihnen klare Verantwortungsbereiche zu. Dieses klare Definieren das Rahmens ist zentral. Denn innerhalb des Rahmens räumen sie ihnen weitreichende Autonomie ein.
Welche Führung braucht es in der Selbstorganisation
Turbulenzen besonderen Ausmasses erzeugt das Corona-Virus. Es zwingt fast alle Bereiche, neue Antworten zu finden. Besonders betroffen sind Spitäler in den stark betroffenen Regionen. Michael Llamas, Gesundheitsdirektor und stellvertretender Leiter von Intensivmedizin und Erster Hilfe im Regionalspital von Locarno machte in dieser Situation eine interessante Feststellungen:
Dieses Virus ist für alle neu. Die Hierarchien sind weggefegt. Jeder kann seine Ideen einbringen, auch die Krankenschwester, die gerade neu angefangen hat.» [2]
Wenn es turbulent wird, können die bestehenden Strukturen, wie hier die Spital-Hierarchie, schnell unpassend werden. Dass Hierarchien über Bord geworfen werden, heisst jedoch nicht, dass keine Führung mehr benötigt wird. Hierarchie und Führung werden mitunter verwechselt. Wenn man Hierarchie abbaut wird es notwendig, dass jemand anderes Führung übernimmt. Führung heisst:
- Jemand stellt eine Frage, die für die Sicherung der Zukunft relevant ist.
- In einem Moment der Unsicherheit gibt es jemand, der wieder eine Richtung herstellen kann, der viele folgen und entsprechend handeln.
Führen bedeutet also, Vorschläge und Fragen anschlussfähig einzubringen. Denn diejenigen die folgen entscheiden, wer führt.
Selbstorganisation braucht Führung. Denn Chancen und Risiken müssen erkannt, Hindernisse und Unsicherheiten beseitigt werden. Wer in einem selbstorganisierten Team wann die Führung übernimmt, ist grundsätzlich offen. Das kann sich, je nach Situation, schnell und oft ändern. Wichtig ist, dass im Prinzip jeder die entscheidenden Impulse geben kann. In dieser Vielfalt der Wahrnehmungen und Ideen liegt das Potenzial von selbstorganisierten Teams. Ungeliebte Meinungen zu unterdrücken oder in Gruppendenken zu verfallen dagegen ist riskant. Wer den Erfolg eines Teams unterstützen möchte (sei es als Teammitglied, Vorgesetzte oder Vorgesetzter) tut gut daran, die Vielfalt zu fördern ohne in Dauerdiskussionen zu verfallen.
Führt Selbstorganisation zu besseren Ergebnissen?
Selbstorganisation birgt ein hohes Potenzial geeignete Lösungen zu finden. Das gilt besonders in komplexen und unüberschaubaren Situationen. Und mitunter ist sie auch Bedingung, um überhaupt zu sinnvollen Lösungen zu kommen. Doch davon auszugehen, dass Selbstorganisation immer zu besseren Ergebnissen führt, wäre ein Trugschluss. Eine zentrale Aufgabe von Führung ist, das Potenzial der Selbstorganisation für gute Lösungen zu erkennen. Oder umgekehrt zu erkennen, wo Selbstorganisation hilfreich ist und wo nicht. Das gilt sowohl für Führungspersonen innerhalb als auch ausserhalb eines Teams.
Darüberhinaus stellen sich Fragen wie: Welche Formen der Selbstorganisation sind geeignet und führen zu besseren Ergebnissen? Dazu mehr im folgenden Beitrag.
Autorenteam
Reto Kessler, Vera Calenbuhr und Sascha Demarmels
Quellen
[1] Muster, Judith: “Judith Muster im Interview, Keine Chefsache”, in: brandeins online 2019, URL: https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-thema/innovation-2019/judith-muster-interview-keine-chefsache, Zuletzt abgerufen am 27.3.2020
[2] “Liebe Deutschschweizer, bereitet euch vor. Bitte!”, Berner Zeitung vom 25.3.2020, URL: https://www.bernerzeitung.ch/liebe-deutschschweizer-bereitet-euch-vor-bitte-645489243184, zuletzt abgerufen am 27.3.2020
[3] Muster, Judith: “Judith Muster im Interview”, in: Health Relations, ULR: https://www.healthrelations.de/judith-muster-ueber-innovation-und-change-mangement/ , zuletzt abgerufen am 13.12. 2019)